Führerschein gegen Jahreskarte: Und danach?
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Die Stadt Lingen (Ems) bietet Senioren ab 80 Jahren, die freiwillig ihren Führerschein abgeben, ein kostenloses Jahresticket an. Die Betonung liegt dabei auf „ein“: Nach einem Jahr Gratisfahrten fällt nämlich der reguläre Ticketpreis an.
Belohnung oder Belächelung?
Als das Angebot startete, lautete die Begründung von Oberbürgermeister Dieter Krone: „Damit wollen wir vor allem die Senioren ansprechen, die selbst spüren, dass sie unsicher im Straßenverkehr geworden sind“.
In einigen anderen Städten gibt es ähnliche Konzepte. An sich eine lobenswerte Idee. Aber: Der Entschluss, den Führerschein abzugeben, ist endgültig, und die Abhängigkeit von den öffentlichen Verkehrsmitteln bleibt für den Rest des Lebens bestehen.
Die durchschnittliche Lebenserwartung Neugeborener liegt aktuell bei 80 Jahren. Allerdings leben Männer, die heutzutage ihren 80. Geburtstag erreichen, im Schnitt noch 8 Jahre länger; bei 80-jährigen Frauen sind es sogar noch 9,5 Jahre.
In dieser verbleibenden Lebenszeit sinkt die Mobilität der Senioren tendenziell weiter, mit zunehmendem Alter sind die Über-80-Jährigen somit immer mehr auf das Auto oder die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen.
Für Personen, die nur noch sehr schlecht zu Fuß sind, stellen auch vergleichsweise kurze Wege zur nächsten Bushaltestelle mitunter ein unüberwindbares Hindernis oder zumindest eine große Herausforderung dar. Durch sinkende Mobilität kann es dazu kommen, dass immer häufiger ein Taxi notwendig ist; und sich das eingesparte Geld für ein kostenloses Jahresticket sehr schnell nicht mehr rentiert.
Der Schritt, den Führerschein aus Altersgründen abzugeben, fällt den meisten Menschen nicht nur sehr schwer, da sie ihn als Einbuße ihrer Selbstständigkeit und Lebensqualität empfinden; er ist auch ein Eingeständnis dafür, dass die eigene Leistungsfähigkeit deutlich und unwiederbringlich nachgelassen hat.
Der Anreiz, sich trotz all dieser Punkte für die Abgabe des Führerscheins und die lebenslange Nutzung von Bus und Bahn zu entscheiden, muss daher erheblich größer sein als eine einzige kostenlose Jahrkarte!
Auch, wenn es um betagte Menschen geht, muss mit respektvollem Optimismus und einer damit verbundenen Weitsicht geplant werden. Ein Gratisjahr in den öffentlichen Verkehrsmitteln, für das im Gegenzug lebenslang auf die Fahrerlaubnis verzichtet wird, rentiert sich aber nur dann, wenn es die überwiegende verbleibende Lebenszeit der Person abdeckt und ihr somit langfristige Mobilität garantiert.
Welches Gefühl schwingt also unweigerlich mit, wenn man einem 80-Jährigen ein Gratisjahr als rentabel schmackhaft machen möchte? Fakt ist: Niemand fühlt sich durch eine geschenkte Jahreskarte belohnt, die ihm das Gefühl vermittelt, er werde sie ohnehin nicht viel länger brauchen.
Zwar zeigen verschiedene Statistiken, dass viele Senioren das Angebot nutzen, doch die Zahlen sind ein Trugschluss: Die Anzahl der Personen, die ihren Führerschein freiwillig abgeben, ist nicht höher als in Städten, in denen dafür keine „Belohnung“ vorgesehen ist.
Wie sinnvoll ist die Alterspauschalisierung?
Fakt ist: Mit zunehmendem Alter lässt unsere körperliche und kognitive Leistungsfähigkeit nach. Der Seh- und Gehörsinn, die Reaktionsgeschwindigkeit und die Konzentrationsfähigkeit verschlechtern sich, das Risiko für Erkrankungen nimmt zu, und die Wahrscheinlichkeit, dass wir (dauerhaft) Medikamente einnehmen müssen, steigt.
All dies kann zu einer Gefährdung von Verkehrsteilnehmern führen.
Das große Aber lautet: Es lässt sich weder eine klare Grenze ziehen, ab wann das Alter als kritisch zu betrachten ist, noch ist es auch nur annähernd möglich, alle Senioren über einen Kamm zu scheren. Davon abgesehen kommen die genannten Problematiken im höheren Alter zwar häufiger vor, können aber grundsätzlich Menschen jeder Altersklasse betreffen.
Als Risikogruppen müssten demzufolge die Menschen zusammengefasst werden, auf die die genannten Punkte tatsächlich zutreffen; und nicht blindlings all diejenigen, bei denen das Vorhandensein aufgrund einer Zahl theoretisch wahrscheinlicher ist.
So gibt es 90-Jährige, die körperlich und geistig noch absolut fit sind, während andere schon mit 60 Jahren deutliche Defizite aufweisen. Eine 85-jährige Person kann kerngesund und auf keinerlei Medikamente angewiesen sein, die potenziell ihre Aufmerksamkeit und ihr Reaktionsvermögen beeinflussen; andere Menschen leiden bereits in jungen Jahren an einer Erkrankung oder sonstigen Einschränkung, die die genannten Risikofaktoren zur Folge hat.
Möchte man sich trotz alldem rein auf Altersgruppen konzentrieren und auf die potenziell „gefährlicheren“ eingehen, ist zu bedenken, dass das mit Abstand höchste Sicherheitsrisiko auf unseren Straßen von 18-24-jährigen Fahranfängern ausgeht. Natürlich würde niemand auf die Idee kommen, ihnen deswegen von vornherein keinen Führerschein auszuhändigen. Ebenso wenig sinnvoll ist es jedoch, sich auf eine Altersgruppe, von der im Vergleich weniger Gefahr ausgeht und die gleichzeitig potenziell mehr auf Mobilität angewiesen ist, zu fokussieren.
Im Übrigen gibt es gegensätzliche Studienergebnisse zu der Frage, ob ältere Autofahrer, die in Unfälle verwickelt sind, häufiger die Schuld tragen (laut Deutscher Verkehrswacht e.V.) oder Opfer sind (laut ADAC).
Grundsätzlich gilt: Wer sich aufgrund seines Alters, einer Krankheit, Behinderung oder sonstigen Einschränkung im Straßenverkehr entweder nicht mehr sicher fühlt oder objektiv eine Gefahr darstellt, muss seinen Führerschein abgeben und sollte keinen Anlass dafür sehen, diese Entscheidung hinauszuzögern.
Was lässt sich aus dem Ganzen schlussfolgern?
• Die Fahreignung ist letztlich individuell vom Menschen abhängig, eine Alterspauschalisierung ist nicht möglich. Dementsprechend sollten alle Autofahrer gleichermaßen kritisch darauf überprüft werden.
• Autofahrer, die sich hinterm Steuer nicht mehr sicher fühlen oder nachweislich nicht mehr fahrtauglich sind, sollten ihren Führerschein freiwillig abgeben und dafür entsprechend „entschädigt“ werden. Dies gilt aber nicht erst für Personen ab 80, sondern für alle Altersklassen.
• Um Menschen den schweren Entschluss, das Autofahren endgültig aufzugeben, zu erleichtern, muss ein erheblich höherer Anreiz her als ein einziges Jahr kostenlose Bus- und Bahnnutzung. Nach einem Gratisjahr sollten zumindest deutliche Vergünstigungen folgen, und das ein Leben lang.
Was tut unsere Seniorenvertretung?
Die Seniorenvertretung der Stadt Lingen legt ausdrücklich Wert darauf, dass Senioren bis ins hohe Alter mobil bleiben, ohne dabei um ihre Sicherheit fürchten zu müssen. In diesem Zusammenhang bietet sie in Zusammenarbeit mit der Landesverkehrswacht Niedersachsen e.V. den Kurs „Fit im Auto“ an.
Der freiwillige Kurs wird dieses Jahr im Mai stattfinden. Er ermöglicht es Senioren, ihr Fahrvermögen in ihrem eigenen Auto mit Hilfe eines Experten kritisch zu überprüfen und eventuelle Schwachpunkte zu entlarven: „Ohne Stress und Druck und garantiert ohne Angst, den Führerschein abgeben zu müssen!“
Zu den Prüfkriterien gehören unter anderem Bremsen, Rangieren, Einparken und die Reaktionsfähigkeit beim Slalomfahren.
Die (vermeintliche) Problematik des Senioren am Steuer wird hier also aus der anderen Richtung angegangen: Der Fokus wird auf die individuellen Fähigkeiten der einzelnen Person gelegt, und im Falle von Unsicherheiten ist nicht der Verzicht aufs Autofahren, sondern das gezielte Trainieren der Schwächen die Konsequenz.
An sich ist das Angebot natürlich sehr zu begrüßen, da es auch Personen miteinschließt, die unter keinen Umständen auf ihre Fahrerlaubnis verzichten möchten und somit weder mit kostenlosen Fahrkarten zu erreichen sind, noch sich freiwillig einer offiziellen Überprüfung ihrer Fahrtüchtigkeit stellen.
Vergeblich nach Unterstützung suchen hingegen diejenigen, die durchaus dazu bereit wären, ihren Führerschein abzugeben, wenn sie die öffentlichen Verkehrsmittel dauerhaft kostengünstig nutzen könnten; sowie Senioren, die schon jetzt freiwillig nicht mehr Auto fahren, jedoch Probleme mit der Finanzierung der Bus- und Bahntickets haben.
Fazit
Die Grundidee, Senioren (und prinzipiell alle Menschen) zur Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel zu bewegen, ist absolut zu begrüßen; doch es muss ein erheblich größerer Anreiz her.
Abgesehen davon, dass das Bus- und Bahnfahren angesichts des Klimawandels generell deutlich attraktiver werden sollte, weisen viele Menschen aufgrund von Alter, Behinderung, Krankheit oder Medikamenteneinnahme körperliche oder kognitive Defizite auf, aufgrund derer sie die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen müssen oder aus Sicherheitsgründen unbedingt nutzen sollten.
Vor allem diese Personengruppen müssen langfristig einen deutlichen Mehrwert darin sehen, das Angebot wahrzunehmen, denn die lebenslange Aufgabe der Fahrerlaubnis ist eine schwere und weitreichende Entscheidung.
Die Seniorenvertretung der Stadt Lingen (Ems) sollte nach deren Motto „Wir für Euch!“ handeln und sich dafür einsetzen, dass die Stadt das Alter der Senioren für diese Kampagne auf 65+ absenkt und eine lebenslange deutliche Vergünstigungen bei der Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel bewilligt.
Ein Gratisjahr ist kein Anreiz!
Text „Führerschein im Alter abgeben“ kommt von Opa Lingen
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