Opa Lingen und das „Älter werden“
„Du bist gar kein richtiger Opa!“, rief mein Enkelsohn neulich. Erschrocken fragte ich ihn: „Wie meinst du das?“ „Na du hast gar keine silbernen Haare und keinen Handstock!“ Ich musste lachen. „Oh, sagte ich, mach dir keine Sorgen, ich gebe mir alle Mühe, bald wie ein richtiger Opa auszusehen!“ Und dann zeigte ich ihn, dass sich auch zwischen meinen Haaren schon einige Silbersträhnen versteckten. „Naja“, meinte er dann etwas beruhigt „da musst du dich aber mehr anstrengen.“
Abends dachte ich über die Szene nach. Eigentlich war ich zufrieden, dass der Kleine weit von den Vorstellungen der „modernen Alten“ entfernt war. Für ihn musste ein Opa wie ein Opa aussehen. Und nicht wie ein geglätteter Sonnyboy mit gefärbten Haaren und einem trendigen Outfit. All die Merkmale, die das Alter ausmachen, waren für ihn ein wichtiges Indiz für die Einordnung eines Menschen in ihr Weltbild. Obwohl die Omis und Opis von heute, dank gesunder Ernährung und besserer medizinischer Versorgung, tatsächlich nicht mehr so aussehen, wie noch in meiner Kindheit. Ich erinnere mich an meine Oma, die hatte grauweißes Haar. Sorgfältig zu einem Dutt gesteckt. Dazu trug sie ein dunkles Kleid mit kleinen hellen Tupfern. Darüber band sie sich stets eine Schürze. Niemals habe ich sie anders, als mit dem Kleid und ihrer Schürze gesehen. Sie hatte immer ein gütiges Lächeln um den Mund herum, wurde niemals laut und ging offensichtlich ganz in ihrer Hausarbeit auf. Jedenfalls backte und kochte sie immer für die ganze Familie, machte Gemüse und Obst ein, und hatte trotzdem immer Zeit, um mit uns Kindern ein Liedchen zu singen.
Unsere heutigen Alten sind da tatsächlich anders. Viele haben ein Auto und leben sehr selbständig. Sie gehen hinaus, besuchen Kurse, unternehmen Fahrten, pflegen Hobbys und treffen sich regelmäßig mit Freunden. Sie kleiden sich hell und freundlich, gehen regelmäßig zum Friseur, in die Sauna, treiben Sport und nehmen regen Anteil am Weltgeschehen. Es entsteht der Eindruck, dass das Altern, wesentlich später einsetzt. Aber ist das wirklich so?
Zeigen sich nicht auch heute die ersten Fältchen um die dreißig? Wird man nicht ab dem vierzigsten Lebensjahr ruhiger und bemerkt nicht so mancher, dass nach dem Fünfzigsten, so Manches, das er noch vor einigen Jahren nebenbei erledigt hat, nun doch schon Kraft und Überwindung kostet? Schielen nicht viele schon in Richtung Rentenzeit, weil so ein Arbeitstag die Kräfte aufzehrt? Fühlen sich die Alten so jung wie sie sich geben? Oder ist der Druck, sich möglichst lange jung und fit zu präsentieren, eher eine Erwartung unserer Gesellschaft? Zumindest meine ich, dass diese Erwartung immer mehr aus dem Ruder läuft. Die plastische Chirurgie boomt wie noch nie. Da werden Gesicht und Arme geliftet, Bäuche gestrafft, Popos angehoben, aufquellende Gifte unter Falten gespritzt und mit Silikon in die angeblich richtige Form gebracht.
Zugegeben, neben vielen Operationen, bei denen der Eingriff schief läuft, gibt es Beispiele mit beeindruckenden Ergebnissen. Aber mal ehrlich, ein Mensch jenseits der Fünfzig, der alles daran setzt, um wie dreißig oder fünfunddreißig auszusehen, der wird sein Alter nur optisch vertuschen können. Sein Innenleben, seine Lebensprägung, seine Kraftreserven, bleiben sechzig Jahre alt. Spätestens, wenn die vertuschten Jahre mit den echten Dreißigern in Kontakt kommen, fliegt der Schwindel auf.
Wenn ich mir die wirklich alten Menschen ansehe, dann wird mir ganz warm ums Herz. Denn in ihren Gesichtern steht Lebensgeschichte. Ich kann an den Falten und den kleinen Augen, dem schütteren Haar und den zitternden Bewegungen nicht das Geringste entdecken, dass mich dazu treiben würde, diesen natürlichen Prozess zu stören. Im Gegenteil. Das Alter mit all seinen Botschaften ist für mich genauso wichtig und interessant wie jeder andere Lebensabschnitt. Beweglich bleiben und sich auch geistig immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen, das sind lohnenswerte Ziele im Alter, die zufrieden machen. Aber auch das Annehmen von Defiziten, die sich unweigerlich einstellen gehört dazu und prägt die positive Ausstrahlung von richtigen Alten.
Text + Bild „Opa Lingen und das „Älter werden““ kommt von Opa Lingen
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