Freude im Leben

Älter werden

Dass das Leben mit sechzig Jahren erst anfängt, halte ich nun wirklich für ein schlechtes Gerücht. Im Rückblick kann ich behaupten, dass mein Leben sehr wohl viel früher anfing und auch im Sinne von ‚ausgefüllt’ – lebenswert war und ist. Was mir allerdings aufgefallen ist, dass es in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen eine Entwicklung gibt, die tatsächlich massive Veränderungen mit sich bringt, die einem Neubeginn gleichen. Sowohl körperlich wie geistig. Das Merkwürdige dabei ist aber, dass man auf immer mehr Erfahrung zurückblickt, dass der Körper Verschleißerscheinungen an den Tag legt, dass aber die Seele, die ja eigentlich so ganz sicher nicht definiert werden kann, offensichtlich nicht altert. Obwohl auch sie ja Einiges wegzustecken hat im Laufe eines Lebens und manchen Kraftakt und Verletzungen überstehen muss. Dennoch scheint sie mir der Motor des Ganzen zu sein und immer wieder neue Impulse an den restlichen Menschen zu schicken, der ihm ein Weiterleben ermöglicht, egal was ein Mensch erlebt.

Und ich vermute, dass diese Seele, das Wichtigste, das ein Mensch besitzt. Denn sie macht ihn zu einem bewussten Wesen, das sich entscheiden kann, für ein lebensbejahendes oder ein lebensverneinendes Verhalten – oder irgendetwas da zwischen. Ich kenne alte Menschen, die sind körperlich gebrechlich, können kaum noch sehen und hören. Faszinierenderweise, ist ihr Lebenswille ungebrochen und sie sind dankbar, wenn man sie einbezieht in die Familie, in die Geschehnisse, wenn man sie teilhaben lässt, an allem, was um sie herum geschieht.

Ich habe mich einmal mit einem Zweiundneunzigjährigen darüber unterhalten, dass es Menschen gibt, die trotz vieler körperlicher Gebrechen noch froh und dankbar in jeden neuen Tag hineingehen, und dass es auf der anderen Seite Menschen gibt, die schon an kleinen Pickeln, Narben oder Falten fast zerbrechen wollen. Seine Antwort war ganz einfach: Er lachte! Er lachte so herzlich, dass man unweigerlich mitlachen musste. Dann fragte ich ihn, was an meiner Frage so lustig sei. „Viele Menschen nehmen sich viel zu wichtig“, meinte er. „Sie glauben, wenn sie eine Falte oder eine Schramme abbekommen, oder gar ihre Haare verlieren, dann verliert ihr ganzes Leben an Wert.“ Und dann lachte er wieder. „Darüber klagen sie und grämen sich und verplempern so die schöne Zeit, in der sie mit anderen gemeinsam, viele schöne Dinge erleben kann.“ Ich hörte ihm aufmerksam zu und sah in seine kleinen lustigen Augen, die trotz seines Alters und seiner Gebrechen noch immer funkelten.

Älter werden - Freude
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Ich denke ich habe verstanden, was er mir damit sagen wollte. Es ist die Freude im Leben, die Neugier, der Spaß, das Miteinander und das Füreinander, die dazu beitragen, dass man ein langes zufriedenes Leben führen kann. Mit all seinen Haken und Widrigkeiten, von denen keiner verschont bleibt. Nur wie man mit ihnen umgeht, das macht das Altern angenehmer oder unangenehmer. Wer sich selbst nicht so wichtig nimmt, wird weiter und mehr im Leben sehen, als die unangenehmen Begleiterscheinungen des Alterns. Nur der wird auch die Vorteile des Älterwerdens erkennen, genießen und ausleben können. Und so weit bin ich mindestens auch schon, dass ich das voll unterstreichen kann. Vieles wird einfacher und manches gar überflüssig, so dass unnötiger Ballast einfach über Bord geworfen werden kann. Ich jedenfalls bin neugierig auf die Jahre und Erfahrungen, die hoffentlich noch auf mich warten. Und das wird sicherlich interessanter und spannender, als die Beschäftigung mit irgendwelchen Haaren die mich verlassen oder Falten die mich heimsuchen. Und wenn in Zukunft alles etwas langsamer abläuft, na gut, dann füge ich mich halt – es wird schon seinen Sinn haben. Es gibt ohnehin keine Alternative zum älter werden, also machen wir einfach das Beste daraus und das auf allen Ebenen.

Text „Älter werden“ kommt von Opa Lingen

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